Die weltweiten Börsenplätze bereiten sich auf eine längerfristige Phase der Volatilität vor, nachdem sich Großbritannien beim gestrigen Referendum für einen Austritt aus der EU entschied. In den kommenden Tagen sind britische Vermögenswerte am schwersten betroffen. Die Auswirkung dieser historischen Abstimmung ist jedoch weltweit spürbar. Der Grund: Das Austrittsverfahren zwischen Großbritannien und der EU könnte zu Chaos und Zwiespalt führen. Die Turbulenzen könnten für bottom-up-orientierte und fundamental ausgerichtete Anleger aber auch eine beträchtliche Chance sein.
Turbulenzen der Finanzmärkte weithin spürbar
Die britischen Wähler stimmten mit 51,9 % zu 48,1 % für einen Austritt aus der EU, der das Land seit 1973 angehörte. Nachdem sich das Ergebnis des Referendums über Nacht immer deutlicher abzeichnete, fiel das britische Pfund zum Dollar auf den tiefsten Punkt seit 1985. Während die Märkte am Freitagmorgen versuchten das Ergebnis zu kompensieren, bestätigte die Ratingagentur S&P bereits, dass Großbritannien sein AAA-Rating voraussichtlich nicht halten könne. Im frühen Handel sackte die Rendite für 10-jährige US-Staatsanleihen unter 1,5 % - der niedrigste Stand seit 2012.
Quentin Fitzsimmons, Portfolio Manager, T. Rowe Price’s fixed Income Team, ist der Auffassung, dass das britische Pfund – der liquideste Vermögenswert Großbritanniens – kurzfristig am meisten gefährdet sei. „Das britische Pfund ist stark anfällig, da das Vertrauen britischer Unternehmen abnimmt und das Land bereits ein großes Leistungsbilanzdefizit aufweist“, erklärt er. „Vor dem Referendum nahmen wir eine geringfügige Absicherung im britischen Pfund vor, setzten aber nicht stark auf ein Ergebnis. Wir könnten sie nunmehr jedoch weiter ausbauen.“
Laut Fitzsimmons sind Befürchtungen einer Parität zum US-Dollar unbegründet. „Das britische Pfund ist eine Reservewährung, die stark gehandelt wird, und es ist eine Wertanlage“, sagt er. „Fällt die Währung auf einen bestimmten Punkt, gibt es Käufer und dies führt wiederum zu einer Korrektur. Das britische Pfund wird zweifelsohne schwächer tendieren, aber Befürchtungen eines Kurssturzes ins Endlose sind unbegründet. Die Aussichten einer Senkung der britischen Zinssätze aufgrund des Wahlausgangs verstärken sich.“
Dean Tenerelli, Portfolio Manager, European Equities, warnt: „Eine längerfristige Periodeder Ungewissheit wird sich nicht nur an den Finanzmärkten Großbritanniens und Europas, sondern auch weltweit abzeichnen. Märkte mögen keine Ungewissheit. Großbritannien ist das erste Land, das die EU verlässt, und es gibt keine Vorlage, der man folgen kann. Es gibt derartig viele Variablen, dass es schwer ist, eine überzeugende Prognose abzugeben, wie sich der Wahlausgang wirtschaftlich auswirkt. Ich gehe allerdings von einer Verschlechterung der britischen Wachstumsaussichten aus.“
Vom Wahlergebnis am schwersten betroffen dürften wahrscheinlich britische Finanzdienstleister sein. Der Rückgang des britischen Pfunds dürfte Anleger veranlassen, ihre Risiken abzusichern, indem sie Geld außer Landes bringen. David Stanley, Portfolio Manager, European Investment-Grade Bonds, äußert sich so: „Vor dem Referendum vergrößerten sich die Spreads der britischen Banken und sie werden jetzt noch größer werden. Alle als risikoreich geltenden Vermögenswerte sind davon betroffen, und die meisten britischen und europäischen Vermögenswerte nehmen ab. Auf Pfund lautende sowie die von britischen Unternehmen auf andere Währungen emittierte Unternehmensanleihen werden schwächer notieren.“
Mike Della Vedova, Portfolio Manager, European High Yield Bond Strategy, fügt hinzu: „Die Kapitalmärkte werden mehr nach innen gerichtet sein. Ausländische Investoren dürften weniger in britische Unternehmen investieren, was letzteren die Mittelbeschaffung erschwert. Der Zugang für britische Unternehmen zu globalem Kapital wird voraussichtlich abnehmen. Sie müssen sich daher die Mittel auf dem britischen Markt beschaffen.“
Chancen und Herausforderungen für den fundamental ausgerichteten Anleger
Um sich erfolgreich durch den bevorstehenden schwierigen Zeitraum zu manövrieren, muss man in der Lage sein, die Sektoren und einzelnen Unternehmen zu identifizieren, die vom EU-Austritt am schwersten betroffen sind – und natürlich die Unternehmen, die letztlich davon am meisten profitieren. Ben Griffiths, Portfolio Manager, European Small-Cap Equities, erklärt: „Vor der Volksabstimmung waren wir in Großbritannien übergewichtet, aber nun betreten wir Neuland. Wir erwägen den Abbau unseres britischen Engagements, insbesondere in den binnenorientierten Bereichen wie Immobilien und Konsumgüter. Bei Finanztiteln sind wir bereits untergewichtet. Wir prüfen unsere Bestände auf Einzelfallbasis, um festzustellen, wie viel von ihrem Geschäft aus Europa kommt, ob diese Kanäle für sie offen bleiben bzw. ob mögliche Kosten für etwaige regulatorische Änderungen anfallen.
Ehrlich gesagt dürfte angesichts der fehlenden Klarheit über das Umfeld nach dem Brexit, die Volatilität des Markts kurzfristig umfassend sein“, gibt Griffiths zu verstehen. Selbst unter aktuellen Voraussetzungen gibt es nach wie vor Qualitätsunternehmen, die gegen einen Abwärtstrend verhältnismäßig immun sind. Hierzu gehören innovative Technologien, führende Akteure in Nischenmärkten oder Unternehmen mit dominierenden Produkten oder Marken.
„Anleger dürften kurzfristig von Unternehmen im Bestand profitieren, die in verschiedenen Regionen operieren“, macht Tenerelli deutlich. „Trotz der bevorstehenden Ungewissheit profitieren multinationale Unternehmen mit beträchtlichen internationalen Einnahmen vom Kursrückgang des britischen Pfunds, da der Wert ihrer Einnahmen zunimmt“, erklärt er.
Ergänzend sagt er: „Während des Zeitraums der Kampagne lautete unsere Devise „Business as usual“ und sie hat sich aktuell nicht geändert. Es ist wenig zweckvoll zu versuchen, ungewisse Ergebnisse zu prognostizieren. Wir haben auch nicht angestrebt, die Zusammensetzung des Portfolios entgegen unserer Anlagephilosophie und unserem Anlageprozess zu ändern.“
Bei Anleihen sollte das Anleihekaufprogramm der EZB den europäischen Investment-Grade-Emittenten eine robuste technische Unterstützung bieten. Die Spreads werden größer, aber nicht in dem Umfang, als wenn es das Programm nicht gäbe. Der europäische Investment-Grade-Markt dürfte den von Großbritannien und möglicherweise den der USA überflügeln.
Stanley ist der Auffassung, dass die Vergrößerung der Spreads von britischen Unternehmensanleihen gleichzeitig eine Anlagechance ist. „Eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale liegt zwischen Unternehmen, die mehr bzw. weniger in Großbritannien tätig sind“, erläutert er.
„In Großbritannien niedergelassene Unternehmen, die ihre Einnahmen vorwiegend auf dem europäischen Festland generieren, dürften zunächst schwächer performen, so wie alle anderen auch. In der Realität sind sie allerdings weniger gefährdet und könnten für Investoren daher eine gute Kaufchance darstellen.
Außerdem werden amerikanische und europäische Unternehmen, die in britischen Pfund emittieren, schwer betroffen sein. Das ist eine sehr gute Gelegenheit, um qualitativ hochwertige Unternehmen in britischen Pfund statt in Euro bzw. US-Dollar zu erwerben und sie wiederum in ihren Basiswährungen abzusichern.“
Laut Della Vedova könnte es einige Zeit dauern, ehe Anleger wieder zuversichtlich sind, um in europäischen Hochzinsanleihen zu investieren. „Globale Anleger könnten in Richtung USA blicken, selbst wenn das Land den Kreditzyklus weiter durchschritten hat und potenziell mit mehr Ausfällen konfrontiert ist als der europäische Markt“, lässt er durchblicken. „Das wirkt sich auf europäische Hochzinsanleihen negativ aus, aber dadurch entsteht ebenfalls eine Kaufgelegenheit. Unser Ziel ist es, über den weiten Abverkauf hinaus zu blicken und die Titel zu identifizieren, die unserer Meinung nach einer negativen Überreaktion ausgesetzt waren. Britische Unternehmen, die beispielsweise nicht aus dem Ausland importieren müssen, werden durch den Kurseinbruch des britischen Pfunds weniger betroffen sein. Sie sind vor einem Abwärtstrend geschützt.“
Zähe Verhandlungen deuten auf langfristige Ungewissheit hin
Großbritannien muss sich nun auf lange und schwierige Verhandlungen mit der EU vorbereiten, die sich mit der Herausforderung konfrontiert sieht, den Staatenblock zusammenzuhalten. Griffiths schätzt die Situation wie folgt ein: „Viele EU-Mitgliedstaaten werden im Zuge der Schaffung des Präzedenzfalls durch den britischen Austritt die Entwicklungen der kommenden Monate aufmerksam verfolgen. Die Wettbewerbsfähigkeit von Griechenland, Spanien, Portugal und Italien wurde durch deren EU-Mitgliedschaft beeinträchtigt. Sollte sich ein Mitglied der Gemeinschaftswährung dazu entscheiden, dem britischen Beispiel zu folgen, würde das den Staatenblock untergraben.“
Um der Gefahr einer Verbreitung der Austrittsbestrebungen anderer EU-Länder entgegenzuwirken, wird die EU als zäher Verhandlungspartner Großbritannien gegenüberstehen.
Dazu erklärt Della Vedova: „Die EU wird sich dafür einsetzen, den Unterschied zwischen EU-Mitglied und kein EU-Mitglied, so deutlich wie irgend möglich zu machen. In der Praxis wird das so aussehen: Die EU wird den europäischen Markt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, um das Leben der verbleibenden EU-Mitgliedstaaten vielversprechend zu gestalten. Anders formuliert: Damit wird gleichzeitig Großbritannien das Leben schwer gemacht.“
In welchem Ausmaß jedoch die EU Großbritannien nach der Abstimmung für den Brexit „bestrafen“ wird, hängt von der Komplexität – sowie dem potenziellen Zwiespalt – hinsichtlich der Verhandlungen mit den verbleibenden EU-Mitgliedstaaten ab. Selbst wenn mit der EU als einzige Rechtsgemeinschaft verhandelt werden muss, pflegen einzelne Mitgliedstaaten ihre eigenen Handelsbeziehungen mit Großbritannien. Einige Länder sind von britischen Verbrauchern abhängiger als andere. Wie sich dieser Interessenkonflikt lösen wird, wird letztlich durch die Haltung der EU gegenüber Großbritannien nach dem Brexit entschieden.
„Die Macht des wirtschaftlichen Eigeninteresses ist nicht zu unterschätzen“, führt Fitzsimmons ergänzend an. „Frankreich wird die Tätigkeit britischer Finanzdienstleister auf dem europäischen Festland wahrscheinlich erschweren. Deutschland hingegen dürfte eher flexibler sein, denn seine Automobilindustrie ist von Exporten nach Großbritannien stark abhängig und möchte wohl kaum den Handel verlieren. Andere europäische Länder verfügen über eine unterschiedliche Handelsabhängigkeit mit Großbritannien, die die Verhandlungen mit der EU stark beeinträchtigen könnte. Dies könnte Uneinigkeit stiften.
„Die Art und Weise der britischen Verhandlungen mit der EU werden zudem durch den Umstand erschwert, dass Premierminister David Cameron die Kampagne auf der Seite der Verlierer führte, wodurch seine Position extrem gefährdet ist“, fügt Fitzsimmons ergänzend hinzu.