Wednesday 24-Apr-2024
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China schrumpft

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Ein Kommentar von Dieter Wermuth, Economist und Partner Wermuth Asset Management. Als das statistische Amt Chinas kürzlich meldete, dass die Bevölkerung des Landes 2022 erstmals seit Mao Tse-tungs Hungerjahren zurückgegangen war – um knapp eine Million gegenüber 2021 – löste das vor allem in den USA einen kleinen Mediensturm aus. Es wurde mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, dass China von nun an wohl nicht mehr so dynamisch wachsen und damit künftig weniger gefährlich sein würde. Geht es nach den Prognosen der UN, werden gegen Ende des Jahrhunderts in China nur noch zweimal so viele Menschen leben wie in den Vereinigten Staaten; zurzeit sind es noch 4,2-mal so viele. China steht angeblich vor einem demografischen Gau.

Aus mehreren Gründen wird sich in der Tat nicht vermeiden lassen, dass Chinas Bevölkerung weiter schrumpft: (1) die Geburtenrate beträgt, ähnlich wie in Westeuropa, nur noch 1,3 und liegt damit weit unter dem Wert von 2,1, der für eine mittelfristige Stabilisierung erforderlich ist; (2) durch die über 35-jährige ein-Kind-Politik, die erst 2015 endete, fehlt es an jungen Leuten, vor allem an Frauen, die für ausreichend Nachwuchs sorgen könnten, (3) gleichzeitig steigt der Anteil der Alten an der Gesamtbevölkerung rapide, mit der Folge, dass auf einen Erwerbstätigen immer mehr Rentner entfallen – junge Familien müssen oft nicht nur für ihr eigenes Kind, sondern auch für ihre Eltern und zwei oder mehr Großelternpaare sorgen; das zwingt häufig beide, Mann und Frau, zu einem sogenannten 996-Arbeitsrhytmus, von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, und sechs Tage die Woche; wer will da noch Kinder großziehen? (4) zudem sperrt sich die kommunistische Führung bislang gegen ausländische Zuwanderer; dabei liegen Länder mit einem Überangebot an billigen und willigen Arbeitskräften direkt oder fast direkt vor der Haustür (Indonesien, Indochina, die Philippinen, Bangladesch, Pakistan).

Es muss für China nicht in einer Katastrophe enden. Japan macht vor, wie eine Gesellschaft mit ihrem Alterungsprozess umgehen kann und am Ende sogar besser dasteht als zuvor. Eine der vielen Stellschrauben, an denen sich drehen lässt, ist das Eintrittsalter in die Rente. Während wir hier in Deutschland demnächst intensiver darüber diskutieren werden, wie es sich von demnächst 67 Jahren (für Frauen und Männer) allmählich auf vielleicht 70 Jahre erhöhen lässt, liegt es bei chinesischen Männern bei nur 60, für Frauen bei 55 („white collar“) beziehungsweise bei nur 50 Jahren („blue collar“). Hier ist offensichtlich noch eine Menge Luft nach oben, zumal sich auch in China die Lebenserwartung ständig erhöht. Die Last, die die Jungen tragen müssen, könnte sich allein durch eine längere Lebensarbeitszeit erheblich vermindern.

Weitere Ansatzpunkte sind eine stärkere staatliche Förderung der frühkindlichen Erziehung und ein Ausbau der Altenpflege – beides ist in China völlig unzureichend und reicht nicht an die Standards heran, die in den meisten OECD-Ländern inzwischen üblich sind. Auch das würde die Jungen entlasten und sie animieren, wieder mehr Kinder in die Welt zu setzen. Angesichts sehr niedriger staatlicher Schulden und einer außerordentlich hohen Sparquote fehlt es sicher nicht an den Finanzen, eher schon, unverständlicherweise, am Willen, hier aktiv zu werden: Mehr Kinderhorte und Altersheime statt noch mehr Infrastruktur sollte die Losung sein.

Aus europäischer Perspektive ist zudem nicht einzusehen, warum es nicht einen trade-off zwischen Lohnsteigerungen und effektiver Wochenarbeitszeit geben kann, indem die Arbeitnehmer auf einen Teil des möglichen Einkommens zugunsten einer kürzeren Arbeitszeit verzichten. Der Einwand ist an dieser Stelle natürlich, dass das durchschnittliche chinesische Monatseinkommen aktuell nur 1.200 Euro beträgt und damit kaum für die hohen Mieten und die teure Ausbildung der Kinder reicht. Da China als Staat reich ist, müsste es aber eigentlich möglich sein, hier eine Lösung zu finden. Warum hat ein kommunistisches Land so wenig Sozialwohnungen?

Kaum ein Land verfügt über einen so großen finanziellen Spielraum wie China: Die nationale Sparquote liegt bei nicht weniger als 45,5 Prozent (des nominalen BIP), die Investitionsquote bei 44 Prozent. Beide Quoten sind rund doppelt so hoch wie in den USA oder Deutschland. Dass so viel investiert wird, ist der wichtigste Grund für den phänomenalen wirtschaftlichen Aufholprozess, den es in dieser Rasanz meines Wissens nach noch nie irgendwo sonst gegeben hat (in Japan, Taiwan und Südkorea noch am ehesten).


Die chinesische Führung hat vor einigen Tagen für die mittlere Frist ein jährliches Wachstumsziel von
5 Prozent ausgegeben. Das ist nur wenig im Vergleich zu früheren Jahren, im Vergleich zu dem, was für die EU, die USA oder Japan erwartet wird, ist es jedoch geradezu sensationell hoch, vor allem weil es in einer Zeit geschehen soll, in der die Anzahl der Beschäftigten voraussichtlich um jährlich 0,5 Prozent zurückgehen wird (2022 lag die Anzahl der Beschäftigten bei 733,5 Millionen). Das bedeutet im Übrigen, dass die Produktivität in Zukunft vermutlich um mehr als jährlich 5 Prozent zunehmen wird. Auch das ein erstaunlicher Erfolg. In den OECD-Ländern gilt eine Zuwachsrate von nur etwa 1 Prozent mittlerweile als normal. Ein Grund für das chinesische Produktivitätswunder ist vermutlich die Tatsache, dass so viel Geld in die Ausbildung gesteckt wird, vor allem in die Naturwissenschaften und die technologischen Fächer. Pro Jahr verlassen sechsmal mehr Ingenieure die Hochschulen als in den USA. Bildung gilt allgemein als der Königsweg zu Wohlstand und gesellschaftlichem Aufstieg.

Es wird wohl noch einige Jahrzehnte dauern, bis Chinas reales BIP so langsam zunehmen wird wie das der USA, der EU oder Japans. Nach den aktuellen Trends und unter den Annahmen, dass sich der Wechselkurs nicht viel ändert und es zu keiner nennenswerten Diskrepanz bei den Inflationsraten kommt, wird das nominale BIP bereits im Jahr 2030 so groß sein wie das der USA. Selbst dann wird es sich pro Kopf nur auf ein Viertel des amerikanischen belaufen. Mit anderen Worten, wenn kein großer Krieg dazwischenkommt und es bei den Unterschieden in den nationalen Investitionsquoten bleibt, wird China immer mehr zur führenden Wirtschaftsmacht und zum Wachstumsmotor der Welt. Weil so viel gespart und investiert wird, ist es zudem kaum relevant, dass der Mix aus zentraler staatlicher Lenkung und kapitalistischem Unternehmertum an mancher Stelle zu gigantischen Fehlallokationen, also zur Verschwendung von Ressourcen führt. Es ist einfach sehr viel Geld da, beunruhigenderweise allerdings auch für das Militär.

Was in Chinas Alterungsprozess noch fehlt, aber angesichts der enorm hohen Sparquote unweigerlich kommen wird, ist der Aufbau eines großen Auslandsvermögens nach dem Muster Japans, Deutschlands, der Schweiz oder Norwegens. Zwar belaufen sich die Nettoauslandsaktiva inzwischen auf knapp 2,5 Billionen Dollar, und nähern sich damit japanischen und deutschen Dimensionen, aber pro Kopf ist das bislang nicht sonderlich viel.

Die anhaltenden Überschüsse in der Leistungsbilanz bedeuten aber, dass auf Jahre hinaus netto Auslandsvermögen erworben wird, das bei weiter rückläufigen Wachstumsraten des realen Sozialprodukts für das Land eine willkommene zusätzliche Einkommensquelle darstellt. In Deutschland beispielsweise belaufen sich die Nettoerträge aus ausländischen Anlagen inzwischen auf rund 3,5 Prozent des nominalen BIP, ähnlich wie in Japan. Noch hinkt China in dieser Hinsicht weit hinterher.

Insgesamt ist das absehbare Schrumpfen der chinesischen Bevölkerung wegen des hohen Produktivitätswachstums und der investitionslastigen Nachfragestruktur ein beherrschbares Problem. Ich möchte sogar sagen, dass es sowohl für die chinesische Bevölkerung als auch für die Welt insgesamt eine gute Sache ist: Der Verbrauch von fossilen Brennstoffen, Mineralien und, nicht zuletzt, Land wird tendenziell langsamer zunehmen und am Ende sogar sinken. Das hilft im Kampf gegen die Verschlechterung des Klimas.