von Michael Gollits, Vorstand der Heydt & Co. AG und Portfolioadvisor des OVID Infrastructure HY Income Fonds.
Lange hat Chinas Erfolgsstory mit seinen vor Reichtum strotzenden Küstenmetropolen Indien blass aussehen lassen. Aber nun haben massive Eingriffe Chinas in die Privatwirtschaft Investoren verunsichert, während Indiens Börse vor dem Sprung zum fünftgrößten Kapitalmarkt der Welt steht. Ein großer Pluspunkt ist Indiens Demographie: Hier dominiert die Jugend, Indien hat damit das Potenzial, auf Jahre hinaus dynamisch zu wachsen
Aus wirtschaftshistorischer Perspektive ist die Entwicklung von China und Indien ein spannendes Unterfangen. Es ist faszinierend, weil die beiden Länder in Bezug auf Bevölkerungszahl, landwirtschaftlich nutzbarer Fläche und Ehrgeiz einerseits ähnlich und andererseits politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich doch recht unterschiedlich sind. Indiens Wirtschaft hat auf den ersten Blick politische, ökonomische, rechtliche und andere Vorteile gegenüber der Chinas. Dennoch war China seit den frühen 1980er Jahren weitaus stärker gewachsen als Indien. Die Gründe, die Indiens Wachstum hemmten, sind kompliziert. Es gibt politische, soziale und kulturelle Faktoren. Die soziale Undurchlässigkeit hat lange Zeit verhindert, dass junge Talente den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft einnehmen konnten. Zudem profitierte China aus wirtschaftlicher Sicht von der hohen Sparrate, der Arbeitsmarktflexibilität und der Wirtschaftspolitik. Es gibt eine lange Liste von Gründen, warum die Sparquote in China hoch ist. Sie umfasst kulturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren, vor allem ein fehlendes soziales Sicherheitsnetz. Die hohe Sparquote hat es China ermöglicht, seinen gesamten Industrialisierungsprozess selbst zu finanzieren.
„Indiens Internetsektor steht dort, wo China vor fünf Jahren stand“
Doch nun scheint sich das Blatt zu wenden. Unter Ministerpräsident Narendra Modi setzte eine Aufbruchsstimmung ein, die weiter anhält. Mag China ein Erfolg auf makroökonomischer Ebene sein, so ist es Indien auf mikroökonomischer. Denn während China seine ehemaligen Internet-Einhörner einer regulatorischen Diät unterzieht, oder wie im Bildungssektor gar verbietet, steht Indiens Internetsektor dort, wo China vor fünf Jahren stand. Rund 20 Prozent der indischen Börsengänge kommen aus der Tech-Branche. Bis 2025 könnte deren Wert bei bis zu 600 Milliarden US-Dollar liegen. Das Segment könnte seinen Anteil am indischen Aktienmarkt von fünf auf 20 Prozent steigern. Indien hat weltweit den dritthöchsten Anteil an Unicorns, also Start-Ups, die bei einem Börsengang mindestens eine Milliarde US-Dollar erlösen könnten.
Treiber ist der hohe Anteil junger Menschen an der Bevölkerung in Indien, steigende Haushaltseinkommen und eine sehr schnelle Internetdurchdringung des Landes. Hier zeigt sich, wie sich der Aufbau einer starken digitalen Infrastruktur positiv auf das Wirtschaftswachstum eines ganzen Landes auswirkt. Bei der Entwicklung der Technologie-Start-Ups rechnen wir zudem nicht mit regulatorischen Risiken wie in China. Zusammen mit einer deutlich wachsenden Mittelschicht sehen wir eine enorme Wachstumschance. Indiens Aufstieg zum fünftgrößten Aktienmarkt der Welt steht somit wenig im Weg. Indien würde sich hinter den USA, China, der Eurozone und Japan einsortieren und wäre nach Schätzungen von Investmentbanken 2025 im Club der größten Kapitalmärkte der Welt angekommen.
„Indien ist der kostengünstigste Solarstromerzeuger weltweit geworden“
Langfristig muss Indien aber vor allem die Energie-Infrastruktur modernisieren, um auf einen langfristigen Wachstumspfad einzuschwenken. Es stellt sich die Frage, wie Indien als größter Nachfrager von Rohöl und Betreiber von Kohlekraftwerken seine Energiewende gestalten will. Premier Modi hat bereits als Minister der Region Gujarat seine Schlagrichtung vorgegeben, indem er dort die bis dahin größten Solarkapazitäten Indiens aufbaute. Mittlerweile könnte das Land unter optimalen Bedingungen 25 Prozent des Strombedarfs aus Solaranlagen decken. Indien ist der kostengünstigste Solarstromerzeuger weltweit geworden. Doch auch wenn Indien eigene Fertigungskapazitäten aufbaut, wird das geplante Kapazitätswachstum nicht ohne Solarpanele aus China funktionieren. Windenenergie wird ebenfalls eine Rolle spielen, wenn auch eine kleinere. Dennoch wird Indien auf absehbare Zeit nicht ohne Öl auskommen. Eine strategische Partnerschaft zwischen der saudischen Aramco und der indischen Reliance Industries sorgt für Sicherheit. Die Achilles-Ferse der Reformen ist hingegen die indische Kohleindustrie mit ihren enormen Überkapazitäten. Hier muss die Regierung schon bald entscheiden, in welchem Maß sie dem saubereren Erdgas Vorrang geben will. Dies ist aufgrund der angeschlagenen staatlichen Netzbetreiber, die letztlich die finanziellen Bürden dieser Überkapazitäten getragen haben, nicht einfach. Sollten die Netzbetreiber die Abnahmeverträge mit der Kohleindustrie neu verhandeln dürfen, wäre der Weg für Modis „Dash for Gas“ frei, was mit massiven Auswirkungen auf die Preise für Erdgas in der ersten Hälfte dieser Dekade verbunden wäre. Die ohnehin auf Rekordniveau befindlichen Gaspreise könnten somit durch Indiens Boom einen weiteren Schub erhalten.
Michael Gollits ist Vorstand von der Heydt & Co. AG und Portfolioadvisor des OVID Infrastructure HY Income Fonds. Der Fonds strebt die Erzielung einer attraktiven laufenden Ausschüttung bei möglichst gleichzeitiger Wertstabilität an. Michael Gollits startete seine Karriere bei F&C Management Ltd, in London. 1996 wechselte er zu einer deutschen Privatbank und war dort zuletzt als Bereichsleiter Wertpapiergeschäft verantwortlich für Kapitalmarktresearch, individuelles Vermögensmanagement und verantwortlicher Portfoliomanager einer Fondsfamilie. Von 2005 bis 2013 gestaltete er u.a. den Aufbau einer Privatbank in München und war als Geschäftsführer einer Hamburger Vermögensverwaltung für Kundenportfolios und gemischte Fonds mit Fokus auf Zukunftsthemen zuständig.