Friday 26-Apr-2024
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Armes Österreich, reiche Schweiz

Markets and NewsArmes Österreich, reiche Schweiz

Ein Marktkommentar von Dieter Wermuth, Economist und Partner bei Wermuth Asset Management. Ich übertreibe: Natürlich ist Österreich, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, eines der wohlhabendsten Länder, reicher als etwa Deutschland, trotzdem: Die Schweiz spielt in einer vollkommen anderen Liga. Wenn ich mit dem heutigen Wechselkurs zwischen Euro und Franken umrechne, ist das Schweizer BIP pro Kopf zurzeit um fast 90 Prozent höher als das österreichische und doppelt so hoch wie das deutsche, auch viel höher als das amerikanische. Wie kommt’s?

Zunächst einige wichtige Gemeinsamkeiten: Jedes der zwei Alpenländer im Herzen Europas hat rund neun Millionen Einwohner, in beiden wird deutsch gesprochen, in der Schweiz zudem auch, in geringerem Maße, französisch und italienisch. Nach Analysen der Economist Intelligence Unit gehören Wien, Zürich und Genf global zu den fünf Städten, in denen es sich am angenehmsten leben lässt – nirgendwo ist der Lebensstandard so hoch.

Die Bevölkerung nimmt hier wie dort trotz niedriger Geburtenraten im Trend um knapp ein Prozent pro Jahr zu – der größte Teil davon entfällt auf Zuwanderer. Beide Länder sind politisch neutrale, weltoffene und stabile Demokratien, mit hervorragender Infrastruktur und belastbaren sozialen Netzen. Dabei geben sie jeweils weniger als ein Prozent des BIP fürs Militär aus. Bei fossilen Brennstoffen sind sie fast komplett auf Importe angewiesen.

Ökonomen können nicht richtig gut erklären, wie Wohlstand entsteht. Es hilft, wenn ständig ein möglichst großer Teil des Sozialprodukts in den Kapitalstock investiert wird, was in beiden Ländern angesichts von Investitionsquoten von rund 25 Prozent der Fall ist. Noch besser, wenn diese Ausgaben aus inländischen Ersparnissen finanziert werden können, wie das sehr eindrucksvoll in der Schweiz der Fall ist: Die nationale Sparquote liegt dort bei 32 Prozent des BIP, so dass viel übrig bleibt für Kapitalexporte und damit für den Aufbau eines ausländischen Kapitalstocks, der für die inländische Bevölkerung zusätzliches Einkommen generiert – ein wichtiger Aspekt in einer alternden Gesellschaft. Österreich hat nur eine Sparquote von etwas über 25 Prozent und hat hier viel Nachholbedarf, wenn es zur Schweiz aufschließen möchte. Das Nettoauslandsvermögen der Schweiz betrug zuletzt 635 Mrd. Euro, das von Österreich 74 Mrd. Euro. Bald können die Schweizer ihre Hände in den Schoß legen.

Werden sie aber nicht. Sie werkeln und forschen, als gäbe es nichts Schöneres. Die Erwerbsquote liegt zurzeit bei etwa 84 Prozent und gehört damit zu den höchsten der Welt; Österreich kommt auf bescheidenere 77 Prozent, was im Übrigen weniger ist als die Erwerbsquote der Schweizer Frauen (80 Prozent).

Auf eine Million Einwohner kamen 2021 nahezu 970 Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt, mit Abstand der höchste Wert weltweit, verglichen mit 256 für Österreich und mehr als dreimal so viel wie in Deutschland (310). Frankreich (161), die USA (140), das Vereinigte Königreich (83) und Italien (82) rangieren auf dieser Liste unter ferner liefen. Ein anderer Indikator für die heutige und künftige Qualität des Humankapitals sind die Ergebnisse der internationalen PISA-Studien: Im Kompetenzfeld Naturwissenschaften belegen die Schweiz und Österreich mit den Rängen 23 und 28 mittlere bis nicht so gute Plätze.

Dass die Schweizer Produktivität im Trend rascher zunimmt als die österreichische (1,1 Prozent gegen 0,7 Prozent pro Jahr), ist der Hauptgrund für das raschere Wirtschaftswachstum und den deutlich höheren Lebensstandard der Schweiz. Die Investitionsquoten sind gleich, aber das Wachstum ist sehr unterschiedlich. Ich kann nur raten, weshalb das so ist. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass die Schweiz insgesamt ein stabileres Land ist, mit einer Allparteienregierung (seit 1959) statt mit wechselnden Koalitionen wie in Wien, oder dass die Kosten der Finanzierung von Investitionen real ständig niedriger sind als in Österreich (gemessen an den Kurs-Gewinnverhältnissen am Aktienmarkt oder den realen Bondrenditen), oder dass der Franken eine Fluchtwährung ist, der Euro jedoch nicht – wegen des Bankgeheimnisses, oder dass der Marktwert und damit die Liquidität des Schweizer Aktienmarkts ungefähr 15-mal größer ist als die des österreichischen.

Warum die Schweizer so viel erfolgreicher sind, hat am Ende vielleicht doch etwas mit der These des Soziologen Max Weber zu tun, dass nämlich protestantische Gesellschaften in wirtschaftlichen Dingen stets die Nase vorn haben. Die industrielle Revolution nahm ihren Ausgangspunkt in Großbritannien, Holland, Deutschland und Skandinavien, überwiegend protestantische Länder mit einem guten Schulwesen. Ich habe auch den Eindruck, dass dezentralisierte Gesellschaften grundsätzlich erfolgreicher sind als zentralisierte, und die Schweiz ist mit ihren weitgehend unabhängigen Kantonen und einer breit aufgestellten Wirtschaft geradezu das Paradebeispiel für diese These. Das bedeutet vermutlich auch, dass Österreich es schwer haben wird, zur Schweiz aufzuschließen – die Strukturen lassen sich so schnell nicht ändern.